Wir informieren an dieser Stelle zu COVID-19 aus Perspektive einer katholischen Menschenrechtsorganisation im Gesundheitssektor der Entwicklungszusammenarbeit. Dabei geht es auch um diejenigen Unrechtssituationen, derentwegen die Überwindung von Tuberkulose (TB) nicht konsequent genug verfolgt wird.
Wir machen an dieser Stelle zudem auf einen wahrscheinlichen Fehler im untenstehenden Artikel aufmerksam: Das deutsche Unternehmen CureVac wird nicht in die USA verkauft. Allem Anschein nach gab es auch kein feindliches US-amerikanisches Übernahmeangebot. Das mit Verweis auf die Meldung illustrierte grundsätzliche Problem eines Marktversagens bei der Bereitstellung von Medikamenten existiert aber sehr wohl.
Aufgrund der Dringlichkeit leiten wir auf diese Seite mit dem Link, den wir mit der Aussendung zum Welt-TB-Tag geschickt haben. Mehr Hintergründe zur TB finden Sie unter Tuberkulose und in unserem Beitrag zum Welt-TB-Tag 2020 und Fachinformation unter www.covid19box.org.
plan:g ist trotz der COVID-19-Pandemie arbeitsfähig; Mitarbeitende in Österreich und in unseren Partnerländern arbeiten in Isolation vom home-office. Die dafür notwendigen Instrumente stellt plan:g zur Verfügung. Unter anderem um dies reibungslos zu ermöglichen, wird unser Zivildienstleistende seinen Zivildienst verlängern.
Wir danken für diese Hilfe. Und bitten auch Sie sehr herzlich um Ihre Unterstützung.
Wenigstens drei Chancen von Covid-19
Der gierige Griff zum letzten Packerl Klopapier im Supermarktregal kann Angst (definiert als Furcht vor dem Unbekannten, dem Ausgeschiedenen und dem Verdrängten) nicht dauerhaft überwinden.
Wenn nach Abklingen der COVID-19-Pandemie und Erreichen einer Herdenimmunität die Hände wieder ungewaschen blieben und die Schornsteine doppelt so heftig rauchten, hätten wir große Chancen nicht genutzt. Denn die Bedrohung der Gesundheit von Menschen in Österreich und weltweit lässt sich langfristig nicht durch dauerhafte Abschottung oder eine Verkürzung von Lieferketten lösen: Im Unterschied zu COVID-19 stehen beim menschengemachten Artenschwund und beim Klimakollaps nicht nur die Gesundheit und Lebensgrundlagen der Menschheit, sondern großer Teile der Schöpfung auf dem Spiel.
Die Risiken der COVID-19-Pandemie sind bekannt. COVID-19 kann die Belastungsgrenzen von Gesundheitssystemen sprengen. Die Pandemie kann zu Ausgrenzungen führen und Rassismus fördern. Die Krankheit bedroht Menschen als Individuen in ihrer gesundheitlichen Unversehrtheit. Sie wird viele Menschenleben kosten. Beschränkungen der persönlichen Freiheit sind notwendig und sinnvoll, um eine exponentielle Verbreitung des Virus zu verhindern.
Trotz alledem bietet die Pandemie jedoch wenigstens drei Chancen:
- Eine Chance, Solidarität zu gestalten.
Wir können lernen, uns auf neue Weise um andere zu bemühen. Dazu gehören unbedingt Verhaltensänderungen beim Husten oder bei anderen Hygiene-Fragen. Dazu gehört auch der lange verschobene Anruf bei den Großeltern: In Krisen entsteht Zusammenhalt.
Die Sorge umeinander hat jedoch nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension. Die notwendigen, aber immens großen Einschränkungen der persönlichen Freiheit zur Kontrolle von SARS-CoV-2 machen eine demokratische Kontrolle und eine freie Presse umso notwendiger. Dazu Pfr. Edwin Matt, plan:g-Kuratoriumsvorsitzender: „Eine solidarische Gesellschaft ist eine offene und eine gerechte Gesellschaft. Wenn Demokrat*innen notwendige Veränderungen nicht demokratisch, nachdenklich und transparent gestalten, tun es die Autoritären autoritär, demagogisch und machtmissbräuchlich. Selten war ich so froh über die öffentlich-rechtliche Berichterstattung hoher Qualität wie in dieser Krise.“ - Eine Chance, die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit zu verstehen.
Wir können lernen, dass Hilfe nicht reicht, um verbesserungswürdige Zustände dauerhaft zu verändern. Dazu Matthias Wittrock, plan:g-Geschäftsführung: „Wir müssen im globalen Süden und Norden partnerschaftlich und solidarisch zusammenarbeiten, um Gesundheitsgerechtigkeit herzustellen. Die internationale Gesundheitsfinanzierung muss sozial gerechter werden.“ Gesellschaftliche Zustände könnten so verbessert werden, dass Therapien von Krankheiten durch die Förderung von Gesundheit ergänzt oder ersetzt werden. Medikamente und Therapien sollten für jene Krankheiten entwickelt werden, die möglichst vielen Menschen nutzen. Wo allein der Profit zählt, gibt es z.B. hervorragende Zahn-Kosmetik für das strahlende Lächeln der Reichen. Und sehr viele unnötige Knie-OPs. Aber es werden z.B. zu wenig Antibiotika entwickelt. Das schadet allen und muss verbessert werden. Darum ist es richtig und wichtig, dass die Tübinger Firma CureVac ein US-amerikanisches Milliarden-Angebot zur exklusiven Nutzung eines möglichen CORONA-Impfstoffs abgelehnt hat. Jetzt geht es darum, auch andere Geschäfte zu Lasten der Gesundheit aller Menschen unter die Lupe zu nehmen. Dazu Matthias Wittrock: „Jedes Jahr sterben 1,5 Millionen Menschen an TB. Wer jetzt in Qurantäne hockt, sollte sich in Zukunft auch um diese Menschen sorgen.“ - Eine Chance, Selbstwirksamkeit erleben: Veränderung ist möglich.
Viren können sich mit der Geschwindigkeit einer Exponentialfunktion verbreiten. Dazu Magdalena Szelestey, plan:g-Projektmanagerin und public health Expertin: „Auch beim Klimakollaps und dem Artensterben haben wir es mit Exponentialfunktionen zu tun. Es ist wichtig, die Konsequenzen und Geschwindigkeiten solcher Entwicklungen zu verstehen und zu wissen, dass ein verändertes Verhalten gesund machen kann.“ Die Summe individueller Verhaltensveränderung kann dazu führen, dass sich SARS-CoV-2 nicht exponentiell verbreitet. Für individuelle Verhaltensveränderung bezüglich der Vermeidung der schlimmsten Auswirkungen des Klimakollapses gilt dasselbe.
Darum bittet Pfr. Edwin Matt für den chinesischen Arzt Li Wenliang, der bereits sehr früh und gegen behördliche Widerstände auf das neue Virus aufmerksam gemacht hatte und selbst an einer Lungenentzündung verstarb: „Li Wenliang war ein wahrhaftiger Arzt. Sein mutiges Eintreten für unbequeme Wahrheiten, die Veränderungen und ein Neugestalten unseres Lebens unumgänglich machen, soll uns über die jetzige Pandemie hinaus Vorbild sein. Darum bitte ich in großer Dankbarkeit und hoffe, dass uns als Kirche und Gesellschaft ein Dialog über die Bedingtheit des Menschseins gelingt, der nachhaltig verändert und alle Menschen in den Blick nimmt, denen das Menschenrecht auf Gesundheit durch Ungerechtigkeit und Unsolidarität verwehrt bleibt.“
Bedingtheit des Menschseins
COVID-19 macht uns drastisch auf die Bedingtheit des Menschseins in einer sich verändernden Welt aufmerksam. Ist diese conditio humana unabänderlich gegeben, oder steht auch sie selbst in Beziehung zur Veränderung der Welt?
Auf Angst reagiert der Mensch mit Gier: Davon zeugen die Hamsterkäufe in den Supermärkten. Bei der Massenpanik 2010 in Duisburg seien „viele Besucher der Loveparade verzweifelt gewesen, weil sie vom eigenen Überlebenswillen geleitet über Sterbende hinweg traten, anstatt zu helfen“. So berichtete es der Landespfarrer für Notfallseelsorge der rheinischen Landeskirche, Joachim Müller-Lange, kurz nach der Tragödie auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB).
Das Extrembeispiel zeigt, wie destruktiv Ängste werden können. Demgegenüber verweist der Sozialpsychologe Prof. Dr. Stefan Pfattheicher auf die menschliche Fähigkeit der kognitiven Empathie, also auf die Möglichkeit, den Kopf zum Denken zu nutzen und bewusst die Perspektive eines anderen einzunehmen (in: Die Zeit, 12.3.2020).
Hannah Arendt hatte der menschlichen Bedingtheit der menschlichen Sterblichkeit und Endlichkeit den schönen Begriff der Natalität – „Geburtlichkeit“ – gegenübergesetzt: Zwar ist der Mensch ein sterbliches Wesen, gleichzeitig aber eines, das Anfänge setzten kann (Hannah Arendt: Vita activa. Vom tätigen Leben, vgl. https://doi.org/10.14315/evth-1998-0406).
Mut zur Geburtlichkeit
In Krisensituationen brauchen wir kognitive Empathie und den Mut, Veränderung zu beginnen. Das fängt mit dem genauen Hinsehen an. Dazu gehört das Erinnern und das Denken an Andere, das bewusste Annehmen einer fremden Perspektive (plan:g – Jahresbericht 2019, Sehen – Urteilen – Handeln, S. 8 ff.).
Diese Perspektive kommt in der aktuellen Debatte um COVID-19 noch zu kurz. Es besteht die Gefahr, die Bedrohung durch das Virus und die verständliche Angst zu missbrauchen und Sündenböcke zu suchen. Ein Negativbeispiel dafür ist die Trump-Apologetin und Fox-News-Sprecherin Laura Ingraham, die China für den Virus verantwortlich macht. Es ist abzusehen, dass auch Europa und Österreich von derartigen Verleumdungen und Verschwörungstheorien nicht verschont bleiben wird: Verzweifelte Menschen in Quarantäne können zur leichten Beute zynischer Demagogie werden.
Das Vergessen und Verdrängen sind weitere Gefahren. Es ist erstaunlich, dass die sogenannte „spanische Grippe“ fast hundert Jahre so gut wie völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden war. Darauf machte plan:g 2018 zum 100. Sterbetag Egon Schieles mit einer Todesanzeige aufmerksam. In Spanien, damals eines der wenigen Länder mit einer freien Presse, wurde zuerst über den weltweit verbreiteten Virus berichtet. In den wenigen Monaten nach dem ersten Weltkrieg fielen dem Influenza-A-Virus H1N1 (IAV1918) etwa 25 bis 50 Millionen Menschen zum Opfer.
"Spanische" Grippe
Im Jahr 2020 leben etwa 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde; vor hundert Jahren erst etwa 2 Milliarden. Die enorm hohen Opferzahlen von IAV1918 bei einer gleichzeitig deutlich geringeren Weltbevölkerung hatten eine weitere Besonderheit: Es starben vor allem junge Erwachsene mit einem vergleichbar gut ausgebildeten Immunsystem. Wahrscheinlicher Grund: Die hohen Opferzahlen lagen nicht nur daran, dass vom Krieg erschöpfte Menschen betroffen waren, sondern an der besonderen Pathogenität von IAV1918.
Ein Virus kann sich linear oder (wenn das Virus dazu fähig ist und soziale Kontakte nicht eingeschränkt werden) exponentiell und damit unglaublich schnell verbreiten. Das Wesen einer Exponentialfunktion wird in einer Videoaninmation der bekannten Schachparabel (für Eilige: ab Minute drei) so eingängig erklärt, dass sie nicht wieder vergessen wird. Zum Video
Auf die Bedrohung einer solchen Exponentialfunktion reagiert die Staatengemeinschaft seit einigen Jahren regelmäßig mit massenhaften Notschlachtungen. Denn die Schweinepest ist mit IAV1918 eng verwandt. Die Infektion von Menschen mit dem Erreger soll ausgeschlossen werden. Und Schweinefleisch soll Billigfleich bleiben (in Österreich kommen auf 1.000 Einwohner*innen 409 zumeist unter erbärmlichen Bedingungen gehaltene Schweine).
Die großen Pandemien der Menschheitsgeschichte aber auch die ganz alltäglichen Lebens- und Liebeserfahrungen in den persönlichen Beziehungen zeigen, dass Menschsein Bedingtsein bedeutet. Die Pestepedemie zwischen 1346 und 1353 forderte 25 Millionen Menschen und damit einem Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung das Leben. Pockenepidemien spielten eine große Rolle bei der Vernichtung der Ureinwohner Amerikas, die nicht durch Immunität oder Impfung geschützt waren. Kein Mensch ist für sich. Weder im Leiden noch im Glück.
Pfarrer Edwin Matt, Kuratoriumsvorsitzender von plan:g, macht auf den unlösbaren Widerspruch zwischen der Realität des Leides in der Welt und der Vorstellung eines liebenden Gottes aufmerksam: „Die Geschichte Hiobs aus dem Ersten Testament, die Theodizee-Frage, ist aktuell. In der narzisstischen Versuchung, gut dastehen zu wollen und alles lösen zu können, wird sie selbst von Kirche zu wenig öffentlich thematisiert“. Pfarrer Matt betont Gottes gewollten Machtverzicht und die Freiheit des Menschen in der Welt. Die Frage laute nicht „wie kann Gott das zulassen“, sondern „was können wir tun“? (vgl. plan:g – wir über uns, S. 2).
Sinnvoller als die Massentötungen infizierter Tiere wäre damit ein Umdenken und etwa eine Abkehr von der Massentierhaltung. Eine Verhinderung von Krankheiten ist sinnvoller als die Reaktion auf Krankheiten. Im Fall der Schweinegrippe ist das die Abkehr von Massentierhaltung, im Falle anderer Krankheiten sind es Impfungen, bezogen auf die Umwelt ist es ein klimafreundliches Leben. Gegen Tuberkulose (TB) müssen Schnelltests preiswerter und neue Therapien entwickelt werden.
Was es im Falle von COVID-19 langfristrig sein muss, wird sich weisen. Einschneidende Lebensveränderungen, das macht die Pandemie schon jetzt erlebbar, sind unausweichlich – aber möglich. Jetzt kommt es darauf an, notwendigen Wandel demokratisch zu gestalten. Gerade vor dem Hintergrund von COVID-19 hat Kirche den bleibenden Auftrag, Mut zur Geburtlichkeit zu machen und Wandlung zu feiern. Das kann auch eine verbeulte Kirche, die von der Sonntagspflicht dispensiert.